Zug Bahnsteig

Oh, ein Artikel über Züge. Und das in Zeiten des Lokführerstreiks. Ich begebe mich auf ganz gefährliches Terrain.

Aber keine Angst. Es handelt sich nur um eine Metapher – der Zug als Beispiel für den Weg unseres Lebens. Ein Thema, das auf meiner Agenda steht, seit ich mit einem Freund vor neun Monaten in Köln war.

Wir hatten am Samstagmorgen einen Termin. In der neuen U-Bahn-Station, von der wir losfuhren, gab es auf mehreren Ebenen keinen Fahrkartenautomaten. So standen wir plötzlich am Bahnsteig, die U-Bahn abfahrbereit. Ich habe den Freund, der in seinem Leben noch nie schwarzgefahren war und wieder umkehren wollte, mehr oder weniger zum Einsteigen genötigt. Im Waggon habe ich dann zu ihm gesagt: „Das Leben wartet nicht auf Fahrkartenautomaten. Manchmal musst du einfach in den abfahrbereiten Zug einsteigen.“

Ein Thema, das für mich damals nach der Kündigung meines Redakteursjobs und dem Entschluss zu meiner Europatour mit dem VW Bus brandaktuell war. Und es immer noch ist. Für mich genauso wie für dich und jeden anderen.

Warum haben alle dasselbe Ziel?

Letztlich sind doch die meisten so veranlagt oder erzogen worden, dass sie im Leben nur die Züge nehmen, von denen sie schon lange vorher die Abfahrtszeit wissen. Auf dem Ticket steht groß und breit das Ziel (interessanterweise bei ganz vielen Menschen dasselbe), und wir gehen davon aus, dass wir ohne Umwege dorthin gebracht werden.

Das sagt uns unser Verstand. Und so sitzen wir scheinbar recht zufrieden im ICE „Finanzielle Sicherheit“ mit dem Ziel „Materieller Wohlstand“ und gehen davon aus, dass wir ganz schnell auf direktem Weg dort ankommen. Auch, wenn es unserem Herz manchmal zu schnell geht.

Du kennst bestimmt noch einige andere Züge zu altbekannten Zielen, in die wir uns immer wieder ohne Nachzudenken hineinsetzen. Die vielen anderen Züge auf dem Gleis erscheinen uns nicht attraktiv genug, sind vielleicht schwer zu erreichen, brauchen zu lange – oder das Ziel ängstigt uns.

Es gehört einiges an Mut dazu, mal aufs andere Gleis zu gehen, ins Ungewisse zu fahren, offen zu sein für neue Landschaften – auch, wenn es dabei vielleicht einige ungeplante Stopps gibt oder sich das Ziel während der Fahrt verändert.

Ein paar Beispiele:

– Da ist sie, Anfang 50, geschieden. Ihr größter Wunsch: eine stabile Beziehung, in der sie sich endlich wieder so richtig fallen lassen kann. Aber immer wieder diese Enttäuschungen. So war es auch beim ersten Mal mit dem Mann, mit dem sie jetzt nach Trennung zum zweiten Mal zusammen ist. Sie hätte sich auch zurückziehen können, hadern, auf die Männer und die Welt schimpfen und sich bemitleiden. Doch sie hört auf ihr Herz, lässt sich fallen – auch wenn sie nicht weiß, wohin die Reise diesmal gehen wird.

– Da ist er, 15 Jahre alt. Für ihn war immer klar, dass seine Lehrstelle bei einer der großen Firmen im Automobilbereich sein soll. Kann man ja auch ein bisschen auftrumpfen damit, wenn man bei einer bekannten Marke arbeitet. Doch dann das Praktikum bei einer No-Name-Firma. Vom dem er jeden Tag strahlend nach Hause kommt. Sein Herz sagt ihm, dass er dort richtig aufgehoben ist. Und der alte Fahrplan zählt nicht mehr.

– Da ist sie, Mitte 30. Kinder wollte sie nie. Ihr Mann dafür umso mehr. Um den Konflikt zu bewältigen, zieht sie sich ein Wochenende in eine einsame Hütte zurück und verbindet sich ganz mit ihrem Innersten. Sie hört auf ihr Herz, entscheidet sich pro Kind, ist nun stolze Mami und sehr froh, dass sie auf ein anderes Gleis gewechselt ist.

– Da ist sie, ebenfalls Mitte 30. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, das Angestelltendasein in Frage zu stellen. Doch nach vielen Jahren hat sie genug davon, sich für eine Firma aufzuopfern, die immer am Abgrund steht. Sie bewirbt sich erfolglos bei vielen anderen Betrieben und fällt irgendwann die Entscheidung, ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen. Sie macht sich selbstständig und probiert nun aus, ob der neue Zug der richtige für sie ist.

Sicherheit ist nicht der wichtigste Begleiter

Diese Liste, in der übrigens kein Beispiel erfunden ist, ließe sich noch beliebig erweitern. Alle Genannten eint eines: Es gibt jeweils einen bis sehr viele gute Gründe, warum die Entscheidungen aus Vernunftsgründen anders hätten ausfallen können (oder müssen).

Im Zug nach Irgendwo ist die vermeintliche Sicherheit nicht mehr der wichtigste Begleiter. Es gibt keine Garantie aufs Ankommen (im Fall der „sicheren Verbindung“ natürlich auch nicht, nur denken wir das immer), vielleicht sogar mal eine Vollbremsung.

Aber damit rechnest du auch, wenn du dich auf das Neue eingelassen hast. Kannst also eher damit umgehen, als wenn bei deiner Standard-Verbindung etwas Unvorhergesehenes passiert und du aus allen Träumen gerissen wirst.

Wenn Zug A nicht fährt, gibt es immer noch Zug B, C, D …

Ein bekanntes Zitat umgewandelt, hieße das: Wenn Zug A nicht fährt, gibt es immer noch Zug B, Zug C, Zug D … Vielleicht sollten wir uns dessen viel öfter bewusst werden.

Ich persönlich finde eine solche Fahrt ins Ungewisse mal beängstigend, mal inspirierend, mal nervend und mal aufregend. Eines gewährleistet sie immer: Sie schärft die Sinne und hält dich lebendig. Und langweilig wird es dabei mit Sicherheit nie.

Also nichts wie rein in den Bahnhof und schauen, welche Verbindungen es so alles gibt! Dein Zug wartet schon abfahrbereit auf dich.

P.S.: Dieser Beitrag ist kein Aufruf zum Schwarzfahren. Natürlich hätte es sich für uns als brave Bürger gehört, dass wir uns noch viel mehr um eine Fahrkarte bemühen. Ich bereue dieses schändliche Verhalten zutiefst. Ach und: Wir sind nicht erwischt worden.

Wohin geht der Zug deines Lebens? Hast du auch schon einmal spontan die Richtung geändert und es nicht bereut? Oder fährst du auch gerne einmal ins Ungewisse? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

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